Supply Chain 4.0
Meinungsbeitrag Prof. Dr. Wolfgang Stölzle, Institut für Supply Chain Management
Die Digitalisierung hat längst die Logistik- und Supply Chain-Community erreicht. Es finden sich kaum Veranstaltungen oder Publikationen, die dieses Thema nicht in den Mittelpunkt stellen oder zumindest streifen. Deutlich seltener sind Fragen zu vernehmen, die sich um konkrete Inhalte, Abgrenzungen zur klassischen IT oder um die Umsetzung von digitalen Lösungen ranken. Dies spricht auf ersten Blick dafür, dass die Szene Digitalisierung als Hpye wahrnimmt, die nötige Profilbildung aber noch zu wünschen übriglässt. Signalisiert der Anspruch «4.0» völlig neue Inhalte oder geht es eher um die Transformation von Bestehendem in eine nächste Entwicklungsstufe?
Kerninhalt von allen Themen rund um Logistik und Supply Chain Management sind physische Material- und Warenflüsse, die in Wertschöpfungsnetzwerken so zu gestalten sind, dass sie uns Konsumenten den grösstmöglichen Nutzen stiften. Seit jeher spielen Informationsflüsse hierbei eine grosse Rolle, wenn es um Planung, Steuerung und Monitoring dieser Material- und Warenflüsse geht. Damit war die Logistikbranche bereits von ihren Anfängen an sehr affin für die Unterstützung durch IT-Tools.
Die plakative Gegenüberstellung von realer und digitaler Welt führt oftmals zum Eindruck, dass die old economy durch die new economy abgelöst werden würde. Gerade in Logistik und Supply Chain Management führt dies jedoch zu einer Fehleinschätzung. Denn tatsächlich wurden nur sehr wenige physische Leistungen durch digitale Services ersetzt. Dazu gehören etwa Tonträger oder Bücher, deren Produktion und Distribution mit der Ablösung durch digitale Musik bzw. EBooks obsolet wurde.
Wo setzt aber dann die Digitalisierung an? Ansatzpunkte lassen sich schnell finden, wenn man sich fragt, wo die Wertschöpfung verbessert wird, d.h. die Effizienz steigt oder neue Leistungen möglich werden. Übertragen auf Material- und Warenflüsse geht es um Entscheidungen im Logistik- bzw. Supply Chain Management, die durch Digitalisierung besser unterstützt werden. Als wichtiges Anwendungsfeld sind unter diesem Blickwinkel zunächst Tools zu nennen, die für eine höhere Transparenz der Material- und Warenflüsse sorgen. So geht es etwa um die Ortung von Sendungen, Containern, Lkws oder Bahnwaggons in Echtzeit – und dies rund um den Globus. Beim Strassengüterverkehr wird dadurch die Disposition von Sendungen mit der Tourenoptimierung von Lkws verknüpft. Wenn das Fahrzeug schon unterwegs ist, berechnen geeignete Tools die Spielräume für die Aufnahme weiterer Sendungen «on trip» unter Berücksichtigung vieler Restriktionen wie etwa Rampenslots, Durchfahrverbote oder Lenk- und Ruhezeitregelungen für Fahrer. Die Folge ist sowohl eine bessere Fahrzeugauslastung als auch die Etablierung von neuen Services gegenüber den Kunden.
Neben der Transparenz ist insbesondere die Vernetzung ein wichtiges Leistungsmerkmal der Digitalisierung: Hier steht etwa die Telematik Pate, die lange vor dem grossen Hype Fahrzeug-bezogene Daten erfasst, ausgewertet und damit für ganze Flotten Optimierungen initiiert hat – unter Einbeziehung der Disposition und des Flottenmanagements. Heute basieren digitale Services wie Estimated Time of Arrival auf der Weiterentwicklung von Telematik-Lösungen. Unter Berücksichtigung verschiedenster relevanter Parameter wird dem Kunden dynamisch in Echtzeit die voraussichtliche Ankunftszeit mitgeteilt.
Als weiteres Merkmal von Digitalisierung gilt die dezentrale Intelligenz, die es erlaubt, dass Optimierungsprozesse lokal ausgelöst und umgesetzt werden. Beispielsweise vermag der intelligente Behälter Impulse zur optimalen Beladung oder zur Rückführung zu geben. Besonders weit gediehen ist die Intralogistik, wo sich Flurförderzeuge selbständig ihre Transportaufträge suchen, Ladungsträger auf-nehmen und rechtzeitig am dafür vorgesehenen Empfangsort abladen. Noch nicht ganz so weit ist demgegenüber das autonome Fahren von Lkws gediehen. Doch immer mehr Assistenzsysteme erhöhen schrittweise den Automatisierungsgrad, so dass die Vision des selbstfahrenden Lkws bereits gut vorstellbar erscheint.
Im Bereich der Informationsflüsse befinden sich ebenfalls viele neue digitale Tools auf dem Markt. Dazu gehören insbesondere Big Data-Lösungen, auf deren Basis Predictive Analytics zur starken Erhöhung der Prognosegüte zur Anwendung kommen kann. Die Effekte wirken sich direkt auf die Materialflüsse aus – weniger Bestände und kürzere Lieferzeiten.
Kurzum: Die Digitalisierung verändert in Logistik und Supply Chain Management dann viel, wenn geeignete Tools genutzt werden, um relevante Entscheidungen zu unterstützen. Dabei geht es nicht um den Tool-Einsatz per se, sondern immer um die vorhergehende Prüfung auf deren Reifegrad und Wirtschaftlichkeit. So bleibt die Reise in die digital unterstützte Logistik- und Supply Chain-Welt auch für den Mittelstand erschwinglich.
Lese-Hinweis: Stölzle, W.; Schmidt, T.; Kille, C.; Schulze, F.; Wildhaber, V.: Digitalisierungswerkzeuge in der Logistik: Einsatzpotenziale, Reifegrad und Wertbeitrag. Göttingen 2018 (Cuvillier Verlag).